Der Sturz Karl Arnolds:
Die Schlacht im falschen Saal
Der Landtag NRW hat Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) auf Antrag der Fraktionen von SPD und FDP mit 102 zu 96 Stimmen das Misstrauen ausgesprochen und den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff zum neuen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten gewählt.
Hinter der dürren Meldung vom 20. Februar 1956 verbergen sich dramatische Ereignisse.
Es war das erste konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Ausgefochten im nordrhein-westfälischen Landesparlament wurden nicht so sehr landes-, sondern vielmehr bundespolitische Gegensätze zwischen den Koalitionspartnern CDU und FDP. Und der Partner- und Koalitionswechsel der FDP, Kommentatoren sprachen von "Putsch", richtete sich in erster Linie gegen Bundeskanzler Konrad Adenauer und nicht gegen den populären nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold.
Arnold, seit 1947 Chef der Landesregierung - zunächst in einer Koalition von CDU, SPD, Zentrum und KPD, dann, von 1950 bis 1954, in einer Koalition von CDU und Zentrum und schließlich von 1954 an in einer Koalition aus CDU, FDP und Zentrum, genoss hohes Ansehen in Nordrhein-Westfalen. Alle seine Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten haben sich gerne auf seinen Satz berufen "Nordrhein-Westfalen will und wird das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein".
Als Landtagspräsident Josef Gockeln am 16. Februar 1956 wenige Minuten nach 11 Uhr die Sitzung eröffnete und die Landtags-Drucksache 302 "Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten" aufrief, herrschte große Spannung im NRW-Parlament. Die Zuschauertribüne war überfüllt. Das Ereignis interessierte auch die internationale Presse.
Die FDP begründete ihren Misstrauensantrag gegenüber Arnold mit bundespolitischen Vorgängen. Und in der Tat gab es nicht nur eine Reihe von grundlegenden Meinungsunterschieden zwischen CDU und FDP auf Bundesebene, vor allem in der Deutschlandpolitik Adenauers, sondern auch einen Gesetzentwurf für ein neues Bundeswahlrecht, der bei seiner Realisierung das parlamentarische Aus für die FDP auf Bundesebene bedeutet hätte. Das war der berühmte Tropfen, der das freidemokratische Fass zum Überlaufen brachte. Da half es auch nichts mehr, dass Arnold der FDP versicherte, dass er gegen die Veränderung des Wahlrechts sei. "Zu spät", wurde ihm entgegengehalten. Die "Jungtürken" in den Reihen der FDP wollten einen deutlichen Dämpfer für den als autoritär empfundenen Politikstil des Bundeskanzlers Adenauer. Sie opponierten gegen die "bedingungslose Westbindung" Adenauers, Bonn müsse auch selbst etwas tun, um die Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Man dürfe nicht alles den Westalliierten und der Zukunft überlassen, so argumentierten die "Jungtürken", unter ihnen Wolfgang Döring, Willy Weyer, Walter Scheel, Lieselotte Funke und Wolfram Dorn, die in Anspielung auf Kemal Atatürks jugendlich-nationale Reformpartei so genannt wurden. Der Düsseldorfer "Putsch" hatte eine stark deutschland- und außenpolitische Motivation. Arnold interessierte kaum. Er wurde funktionalisiert. Dabei handelten die Freien Demokraten als Fraktion zwar geschlossen, aber gegen den Willen ihres Vorsitzenden Middelhauve. Auch in der Bundespartei fand ihr Vorstoß nicht überall Beifall.
Auch die SPD-Fraktion bezeugte Arnold ihren Respekt, warf diesem aber vor, dass er die SPD trotz deren Bereitschaft, die Verantwortung mitzuübernehmen, seit 1950 von der Regierungsarbeit ausgeschlossen habe. Wahrscheinlich habe Arnold damals diese Entscheidung gegen seinen Willen unter Bonner Druck getroffen. Dafür bekomme er nun die Quittung.
So war das erste konstruktive Misstrauensvotum gegen einen Ministerpräsidenten nach Artikel 61 der Landesverfassung, wie Karl Arnold in seiner Verteidigungsrede richtig feststellte, "eine Schlacht im falschen Saale". Es nutzte nichts mehr, dass Adenauer schließlich den Ernst der Lage erkannt und das Wahlgesetz zurückgezogen hatte. Die Absprachen zwischen SPD und FDP waren getroffen und wurden eingehalten. Unklarheit bestand noch über das Verhalten des Zentrums. Bei der Abstimmung am 20. Februar 1956 aber votierten 102 Abgeordnete für Steinhoff, 96 stimmten für Arnold bei einer Enthaltung. Angesichts der Zusammensetzung des Landtags NRW in der 3. Wahlperiode mit 90 Sitzen für die CDU, 76 für die SPD, 25 für die FDP und 9 für das Zentrum schossen noch lange die Spekulationen ins Kraut, wer nun wie abgestimmt habe.
Tatsache aber blieb, dass die Union erstmals in die Opposition verwiesen und die Arbeit Arnolds als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident nach fast neun Jahren abrupt beendet worden war. Arnold, bis zuletzt hoffend, gab es doch in der Tat kein Misstrauen gegen seine Person, war tief betroffen über seinen Sturz. Dass nicht nur die "treulose FDP", sondern auch sein zweiter Koalitionspartner, das katholische Zentrum, zur SPD übergelaufen war, erfüllte ihn mit Bitterkeit.
Dem neuen Kabinett Steinhoff (SPD) gehörten 5 Minister der SPD, vier der FDP und einer dem Zentrum an. Die Koalition aus SPD, FDP und Zentrum blieb jedoch eine zweijährige Episode. Bei der NRW-Landtagswahl 1958 errang die CDU die absolute Mehrheit, wie schon ein Jahr zuvor im Bund. Das Zentrum verschwand von der parlamentarischen Bühne Nordrhein-Westfalens. Die FDP fiel auf 7,1 Prozent gegenüber 11,5 Prozent 1954 zurück. Karl Arnold aber erlebte den Wahltriumph seiner Partei nicht mehr. Wenige Tage vor der Landtagswahl starb er an Herzversagen.