NRW-Landesverfassung und Bonner Grundgesetz
Am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat in Bonn unser heutiges Grundgesetz. Ein paar Tage später, am 25. Mai, trat es in Kraft. Damit erhielt auch Nordrhein-Westfalen den Status eines Landes der Bundesrepublik Deutschland. Zwar wurde das Land Nordrhein-Westfalen bereits am 23. August 1946 durch Entschließung der britischen Besatzungsmacht gegründet, es war aber noch kein Gliedstaat der Bundesrepublik, da diese ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte.
Im Laufe der Jahrzehnte kam es zu vielen politischen Wechselwirkungen zwischen der Bundesebene und dem bevölkerungsreichsten Land Nordrhein-Westfalen. Dies zeigte sich bereits in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – im Prozess des demokratischen Neubeginns und bei der Erarbeitung einer Verfassung.
Nordrhein-Westfalen spielte bei der Verfassungsentwicklung der Bundesrepublik eine maßgebliche Rolle. Schon vorher war das Land selbst auch damit beschäftigt, sich seine eigene Verfassung zu geben. Zunächst wurden unter Einfluss der britischen Militärregierung verschiedene Verordnungen und Gesetze mit verfassungsrechtlichem Charakter erlassen, so beispielsweise das Landeswahlgesetz, das Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid oder die Gemeindeordnung sowie verfassungsähnliche Bestimmungen in der damaligen Geschäftsordnung des Parlaments.
Verfassungsausschuss
Bald, nämlich am 23. Januar 1947, legte der damalige Innenminister Walter Menzel von der SPD dem Landtag einen Entwurf eines vorläufigen Landesgrundgesetzes vor, der bis zur ersten freien Wahl des Landtages NRW am 20. April 1947 nicht mehr im Parlament verabschiedet werden konnte. Am 20. Mai 1947 wurde ein neuer Verfassungsausschuss mit 14 Mitgliedern eingerichtet. Sechs Mitglieder gehörten der CDU und vier der SPD an, die KPD hatte zwei ihrer Mitglieder im Ausschuss sitzen und FDP und Zentrum entsandten jeweils einen Abgeordneten. Am 15. November des gleichen Jahres brachte Menzel einen weiteren Entwurf im Kabinett ein. Das Konzept enthielt auch die Vorschläge der damaligen britischen Besatzungsmacht, einen Grundrechtekatalog aufzunehmen. Dieser Entwurf wurde schließlich am 27. November zum ersten Mal im Plenum beraten und dann dem zuständigen Verfassungsausschuss weitergeleitet. Auch die Fraktionen brachten eigene Vorschläge ein: So legte die KPD am 14. September 1947 ihren Verfassungsentwurf vor, welcher die Stärkung des Landesparlaments vorsah. Auch die FDP reichte einen eigenen Entwurf ein, der als Gegenentwurf zu der Vorlage von Innenminister Menzel Vorlage zu verstehen war.
Die Entwicklung einer eigenen Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen lief nicht ganz reibungslos ab: Im Vergleich zu den südlichen Gliedstaaten Deutschlands kam der Gedanke einer eigenen Staatsordnung relativ spät auf. Bayern verabschiedete seine eigene Landesverfassung bereits am 2. Dezember 1946. In Nordrhein-Westfalen aber war man sich lange nicht sicher über die Zukunft des von den Alliierten kreierten Landes. Später wurden die Beratung über ein Landesgrundgesetz vorläufig ausgesetzt, weil sich bald die Vertreter auf Bundesebene mit der Entwicklung unseres heutigen Grundgesetzes beschäftigten.
Auf Weisung der drei Militärregierungen der Westzonen kamen am 1. Juli 1948 die Ministerpräsidenten der 11 Westzonen in Frankfurt zusammen. Ziel dieser Versammlung war es, eine gemeinsame verfassungsgebende Versammlung zu begründen. Der Zeitpunkt der konstituierenden Sitzung dieser Versammlung wurde für den 1. September 1948 festgelegt.
Am 5. Juli beschäftigte sich auch der Hauptausschuss des nordrhein-westfälischen Parlaments mit der Frage einer verfassungsgebenden Versammlung. Dieser schlug das Konzept einer gemeinsamen Kommission der Landtage vor, welche zunächst nur ein Verwaltungsstatut und ein Wahlrecht für das zukünftige gesamtdeutsche Parlament erarbeiten sollte. Des Weiteren brachte Innenminister Walter Menzel den Vorschlag ein, dass die Versammlung in einer nordrhein-westfälischen Stadt tagen könnte und dachte dabei zunächst an Düsseldorf. Der Chef der Staatskanzlei Hermann Wandersleb sprach sich dagegen für Bonn aus. Für diese Stadt stimmten schließlich am 16. August die Ministerpräsidenten aller westlichen Zonen mit 8 von 11 Stimmen, nachdem auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Karl Arnold, diesen Vorschlag auf der Ministerpräsidentenkonferenz auf Herrenchiemsee, die die verfassungsgebende Versammlung vorbereiten sollte, unterstützt hatte.
Rittersturz-Konferenz
Zuvor, nämlich vom 8. bis zum 10 August 1948, trafen sich die Ministerpräsidenten in Koblenz im Hotel "Rittersturz" auf der so genannten Rittersturz-Konferenz, um die weiteren Abläufe zu besprechen. Auf dieser Konferenz wurden insbesondere die Vorbehalte gegen die Militärgouverneure der drei alliierten Mächte deutlich, welche sich klar für die Entwicklung einer gesamtdeutschen Verfassung ausgesprochen hatten. Die Konferenzteilnehmer jedoch wollten vorerst eine Art provisorische Verfassung, um nicht die Trennung zwischen der von der Sowjetunion besetzten Ostzone und den Westzonen zu verschärfen und den Weg zu einem einheitlichen Deutschland zu verbauen. Die Übergangslösung einer Verfassung sollte deswegen auch nicht durch eine Volksabstimmung in der Westzone legitimiert werden.
Erst Mitte August des Jahres 1948 einigten sich die Vertreter der Länder darauf, als Kompromiss ein von den einzelnen Landesparlamenten zu verabschiedendes "Grundgesetz" zu erarbeiten und dafür einen Parlamentarischen Rat einzusetzen. Diesem gehörten schließlich ab dem 1. September 65 Mitglieder an. Davon wurden am 6. August im Landtag NRW 17 Vertreter gewählt: je sechs Vertreter kamen aus den Reihen der CDU und SPD, je zwei Vertreter entsandten das Zentrum und die KPD, die FDP schickte einen Abgeordneten in das Gremium. Bekannte Abgeordnete des Parlamentarischen Rates aus Nordrhein-Westfalen waren Walter Menzel (SPD), Robert Lehr (CDU) und Hermann Höpker-Aschoff (FDP). Letzterer war langjähriger preußischer Finanzminister in den späten 1920er Jahren und prägte die zukünftige Finanzverfassung entscheidend mit. Der Fraktionsvorsitzende der CDU im Landtag NRW, Konrad Adenauer, wurde bei der Eröffnung der Versammlung zum Vorsitzenden des Parlamentarischen Rates in Bonn gewählt. Außerdem kamen drei der vier "Mütter des Grundgesetztes" aus Nordrhein-Westfalen: Helene Weber (CDU), Helene Wessel (Zentrum) und Friederike Nadig (SPD).
Für die Versammlung hilfreich war der bereits von Walter Menzel eingereichte Vorschlag für eine bundesdeutsche Verfassung. Menzel sprach sich darüber hinaus für ein Senatsmodell der Zweiten Kammer wie in den Vereinigten Staaten oder auch in der Schweiz auf bundesdeutscher Ebene aus, bei dem die Vertreter des Senats jeweils in den einzelnen Ländern gewählt werden. Später wurde er aber von dem bayrischen Ministerpräsidenten Ehard von der föderalen Variante des Bundesratsmodells überzeugt, nachdem er erkennen musste, dass sein Vorschlag im Rat wenig Zuspruch erfahren hatte. Hermann Höpker-Aschoff war dagegen eher zentralistisch als föderalistisch eingestellt, was sich schließlich in der Finanzverfassung niederschlug. Auch Robert Lehr aus Nordrhein-Westfalen hat entscheidend bei der Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern mitgewirkt.
Abstimmung über das Grundgesetz
Nachdem der Parlamentarische Rat in der früheren Pädagogischen Akademie in Bonn das Grundgesetz verabschiedet hatte, stimmte auch der Landtag NRW am 20. Mai 1949 nach einer siebenstündigen Debatte darüber ab. Dabei gab es 157 Stimmen der CDU-, der SPD- und der FDP-Fraktion dafür, während sich 38 Stimmen aus den Reihen des Zentrums und der KPD gegen das Grundgesetz aussprachen. Drei Tage später unterschrieb Karl Arnold bei der Verkündung des Grundgesetzes zusammen mit den Verfassungsvätern und -müttern sowie seinen Amtskollegen aus den übrigen zehn Bundesländern das Dokument. Bonn wurde später auch zur Bundeshauptstadt. Die Stadt setzte sich in einer Abstimmung im Bundestag am 3. November 1949 gegen Frankfurt, der Stadt des Paulskirchenparlaments, durch. In der Aussprache im Landtag erklärte Walter Menzel, das Nordrhein-Westfalen anstrebe, das "bundestreuste Land" der jungen Bundesrepublik zu werden. Damit erklärte das neue Bundesland seine Verfassungstreue und zeigte die Entschiedenheit, mit der es sich mit den Potenzialen des Landes – auch aus Eigeninteresse – für das gesamte Deutschland einsetzen werden würde.
Im Winter desselben Jahres schließlich kam die Landesverfassung für Nordrhein-Westfalen wieder auf die Tagesordnung im Landtag. Am 29. November wurden zwei Entwürfe, einer von Ministerpräsident Karl Arnold, der andere von Walter Menzel eingebracht, in einer 13-stündigen Sitzung im Kabinett diskutiert und schließlich gemeinsam am 14. Dezember im Parlament beraten. Der Verfassungsausschuss tagte zunächst in 23 Sitzungen. Es konnte aber keine Vorentscheidung getroffen werden – die Stimmen der jeweiligen Unterstützer im Ausschuss standen sieben zu sieben. Am 24. und 25. April sowie vom 2. bis zum 5. Mai 1950 kam es zur zweiten Lesung im Landtag. Daraufhin wurden sieben weitere Sitzungen für den zuständigen Ausschuss einberufen.
Streitpunkt war vor allem die Schulpolitik: So sprachen sich die SPD, FDP und KPD für eine Gemeinschaftsschule aus, während die CDU und das Zentrum der Ansicht waren, die Eltern sollten die Schulform für ihre Kinder entscheiden. Diese Forderung setzte sich schließlich auch durch. Auch der Grundrechtekatalog war konfliktträchtig. Menzel hielt das Erscheinen der Grundrechte im Landesgrundgesetz für unangebracht, da diese ja schon im Grundgesetz ausführlich aufgeführt worden seien. Arnold setzte schließlich den Artikel 4 der Landesverfassung durch als Verweis auf die Grundrechte im Grundgesetz. Differenzen gab es auch in der Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Landesregierung und Landtag: die CDU verfolgte eine Richtlinienkompetenz, die ausschließlich beim Ministerpräsidenten liegen sollte, während die SPD eine Stärkung des Parlaments vorsah. Auch die Einführung plebiszitärer Elemente war umstritten. Schließlich setzte sich die Minderheit für Volksbegehren und Volksentscheide durch. Der Vorschlag des Ministerpräsidenten, welcher vorsah, ein Mehrheitswahlrecht verfassungsrechtlich zu verankern, wurde abgewehrt. Ferner fand auch Arnolds Entwurf zur Einführung einer Art Zweiten Kammer mit den Vertretern der Gemeinden neben dem Landtag keine ausreichende Unterstützung. Auf der anderen Seite musste Menzel entgegen seiner unitarisch geprägten Bundesinteressen der Einführung eines Landesverfassungsgerichtes zustimmen. Daran anschließend sprach sich vor allem die CDU für ein starkes Land Nordrhein-Westfalen in einem föderalistischen Staatsaufbau aus. Arnold konnte schließlich die Bezeichnung "Gliedstaat" für Nordrhein-Westfalen im Artikel 1 der Landesverfassung durchsetzen.
Landesverfassung tritt in Kraft
In der dritten Lesung am 5./6. Juni 1950 sprachen sich in knapper Mehrheit 110 Abgeordnete der CDU und des Zentrums für den Mehrheitsentwurf aus, während auf der Seite der SPD, KPD und FDP 97 Mitglieder dagegen stimmten. In einem in der Abschlusssitzung festgelegten Volksentscheid am 18. Juni 1950 wurde die Verfassung schließlich mit 3.627.054 zu 2.240.674 bei 496.555 ungültigen Stimmen angenommen. Am 11. Juli 1950 trat die Landesverfassung für Nordrhein-Westfalen in Kraft.
Die Verfassung ist insgesamt in drei Teile untergliedert. Die Präambel und der erste Teil (Artikel 1 bis 3) legen die Grundlagen des Landes fest (Staatsverfassung, Volkswille, Dreiteilung der Gewalten). Die Artikel 4 bis 29a im zweiten Teil umfassen die Grundrechte und die Ordnung des Gemeinschaftslebens. Der letzte und umfangreichste Teil der Landesverfassung (Artikel 30 bis 88) beinhaltet Bestimmungen zum Landtag, zur Landesregierung, zur Gesetzgebung sowie Regelungen über die Rechtspflege, über den Verfassungsgerichtshof, die Verwaltung und über das Finanzwesen des Landes. Die Artikel 89 bis 92 enthalten Übergangs- und Schlussbestimmungen.
Eine Änderung der Verfassung kann nur erfolgen, wenn sich mindestens zwei Drittel aller Mitglieder des Landtages NRW oder aber zwei Drittel der Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen in einem Volksentscheid für eine solche aussprechen. Änderungen wurden bisher 19 Mal vorgenommen, darunter sind folgende bedeutende Reformen zu nennen: 1968 wurde als erste große Maßnahme Artikel 12 über die Gliederung der Volksschule geändert. Ein Jahr später wurde als Reaktion auf die studentische 68er Bewegung das Wahlalter zum aktiven Wahlrecht und 1974 auch jenes zum passiven Wahlrecht in Artikel 31 auf 18 Jahre herabgesetzt. 1978 wurde der Datenschutz in Artikel 4 Absatz 2 aufgenommen. Damit war Nordrhein-Westfalen eines der ersten Länder neben dem Saarland, welches auch noch vor der Einführung des Datenschutzes auf Bundesebene einen solchen Artikel in seine Verfassung aufnahm. 1985 wurde der Umweltschutz mit der Erwähnung in Artikel 7, Absatz 2 und Artikel 29a zum Staatsziel erklärt. Zu solch einem Ziel wurde 1992 auch die Sportförderung (Artikel 18, Absatz 3). Drei Jahre zuvor wurde durch eine Änderung des Artikels 5, Absatz 2 der Landesverfassung die Gleichachtung der Familien- und Berufsarbeit von Frau und Mann betont.
Da die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vergleichsweise spät in Kraft getreten ist, orientiert sich ihr Wesensgehalt am Bonner Grundgesetz. Ihren Gestaltungsspielraum durch das Grundgesetz füllte die junge Verfassung des Bundeslandes mit Regelungsmaterien nach eigenem Ermessen aus.